"Ausgerechnet Schnellinger": Der WM-Stammgast wird 80

"Haben Sie einen Reisepass?" Mit dieser Frage aus dem Munde von Bundestrainer Sepp Herberger nimmt das Leben eines knapp 19-jährigen jungen Mannes, der am heutigen Sonntag seinen 80. Geburtstag feiert, eine rasante Wendung. Karl-Heinz Schnellinger hat Herberger in einem inoffiziellen Test zwischen Deutschland und der Schweiz im März 1958 in Basel derart beeindruckt, dass er ihn zum Länderspiel nach Prag mitnehmen will.

Der kicker schreibt damals: "Dieser Läufer, Schnellinger, fiel von Beginn an auf. Zunächst durch seine stramme Statur und seinen leuchtenden Blondschopf, alsdann durch seine überaus solide Spielweise, später – passend zu seinem Namen – durch schnelles Laufen und schnelles Handeln." Das erste von vielen Lobliedern auf einen kommenden Weltklassespieler im DFB-Dress klingt ebenso vielversprechend wie Herbergers zurückhaltendes Lob: "Vielleicht wird noch was aus Ihnen!"

"Ein Oberschüler für Deutschland!"

Am Reisepass scheitert der Plan dann nicht, schließlich hat Schnellinger sein Land schon öfters im Dienste des Fußballs verlassen. Zuletzt 1957 beim UEFA-Jugendturnier in Madrid, als er bereits dreimal für Deutschland spielt. Nun also die A-Nationalmannschaft: Nur zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag lässt Herberger den Verteidiger der zweitklassigen (!) SG Düren 99 am 2. April 1958 im Mittelfeld als "linker Läufer" auflaufen und ist trotz der 2:3-Niederlage voll des Lobes über seinen Debütanten: "Er hat sich in unseren starken Abwehrblock hineingespielt und erinnert mich in manchen Szenen an den sprunggewaltigen jungen Posipal." Die Presse hat ihre Sensation: "Ein Oberschüler für Deutschland!"

Das mit der Oberschule hat sich dann schnell erledigt. Die diversen Ambitionen des semmelblonden Gymnasiasten lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Schule und Fußball streiten fast täglich um die kostbare Zeit des Heranwachsenden. Der Vater, der mit Fußball nichts am Hut hat, drängt auf das Abitur, doch der Fußball fordert einen immer höheren Tribut in Form von Reisen, Lehrgängen und Training. Trotz seiner Jugend- und Amateurländerspiele und der zahlreichen Auswahlspiele auf Regionalebene erhält Schnellinger keinerlei Privilegien am Naturwissenschaftlichen Gymnasium seiner Geburtsstadt Düren. Noch 2005 erinnert sich Schnellinger mit spürbarem Grimm an die Hindernisse der Pennälerzeit: "Ich wurde nicht unterstützt, geschweige denn gefördert. Mein armer Vater wurde einige Male beim Direktor, meinem Mathematiklehrer, vorstellig um zu helfen. Der beschied: 'Sie können machen, was Sie wollen. Das liegt allein in Ihrer Verantwortung.' So hab' ich, genau genommen, mit meiner professionellen Berufsauffassung mein Abitur versaut. Woher die Zeit nehmen, um zu lernen?"

Er geht also ohne Abitur von der Schule und macht seine Fußballlehre beim westdeutschen Oberligisten 1. FC Köln, der ihn nach der WM 1958 aus Düren weglockt. Er kommt mit frischen Meriten. In Schweden ist Schnellinger nämlich dank seines geglückten Debüts von Prag als Zweitligaspieler (!) dabei und kommt zweimal zum Einsatz. Wieder gegen die Tschechen (2:2) und im Spiel um Platz 3 gegen Frankreich (3:6). Zweimal schreibt er Geschichte: Mit dem ersten Einsatz avanciert er zum jüngsten deutschen WM-Spieler aller Zeiten und beim zweiten "habe ich Just Fontaine dabei geholfen, WM-Torschützenkönig zu werden." Sein Gegenspieler schießt drei Tore.

Man sieht es "Kalli" nach, alle Welt erkennt sein Talent. Fritz Walter wird noch 1962 "in aller Bescheidenheit" sagen, er habe schon nach dem Debüt in Prag "unserem Karl-Heinz Schnellinger eine große Karriere prophezeit".

Deutschlands Fußballer des Jahres 1962

Nun geht es Schlag auf Schlag. Viermal in Folge wird er mit Köln Westdeutscher Meister und 1962 steht er natürlich in der ersten Kölner Meisterelf, die im Finale den HSV 3:2 besiegt. 1962 ist sein großes Jahr. Bei der ansonsten enttäuschenden WM in Chile gehört er zu den großen Gewinnern. Im kicker erhält er in allen vier Spielen die Note 1, wird nach dem Turnier in nahezu jede fiktive Weltauswahl der internationalen Presse gewählt, 1963 läuft er auch in einer reellen auf. Am 27. Oktober 1962 wählen ihn die deutschen Sportjournalisten zum Fußballer des Jahres mit 149 Stimmen, gefolgt von seinem Kölner Kapitän Hans Schäfer.

Zu diesem Anlass erscheint eine schmale Biographie im Copress-Verlag (Titel: "Gib mir den Ball"), in der Bundestrainer Herberger so zitiert wird: "Schnellinger ist auf allen Positionen so stark, daß er jeden ausstechen kann. Wohin wir ihn stellen, als Verteidiger, Stopper oder Läufer, das hängt nicht von ihm, sondern von den anderen ab." Am meisten stellen sie ihn auf als linken Verteidiger, aber rechts wäre auch kein Problem. Der Mann, der in seinem Beruf alles kann, schießt natürlich auch beidfüßig. Wobei er von Beruf offiziell Vertreter für Geschenkartikel im Unternehmen von Kölns Präsident Franz Kremer ist, denn in Deutschland darf es den Profi immer noch nicht geben. Schnellinger hat das nie verstanden: "Wir Kicker bewegten uns irgendwo auf der Ebene der Kneipen- und Tankstellenbesitzer. Und das war es ja auch, was man bestenfalls mit diesem Sport erreichen konnte. Dass Fußball ein Beruf ist, dafür gab es in Deutschland damals wenig Verständnis." (Zitat aus: Deutschlands Traumelf. Die Besten aller Zeiten. 2005)

Nach 220 Spielen für den 1. FC Köln zieht es ihn ausgerechnet unmittelbar vor Gründung der Bundesliga 1963 deshalb ins damals gelobte Fußballland Italien. "Wenn die Bundesliga etwas früher gekommen wäre, wäre ich vielleicht sogar geblieben", sagte er jetzt im Geburtstagsinterview dem kicker. FC-Präsident Kremer kämpft damals nicht lange und sagt: "Du musst das machen." Köln streicht nicht ungern die damalige Rekordsumme von angeblich 550.000 DM ein, Schnellinger soll 350.000 DM Handgeld bekommen haben. Unvorstellbare Summen für deutsche Ohren in jenen Tagen. Seine Absichten hat er nie verleugnet. "In Italien spiele ich, um möglichst viel Geld zu verdienen", sagt er 1967.

Aus "Kalli" wird "Carlo"

Und so wird aus "Kalli" der "Carlo". Den Zuschlag erhält der AS Rom. Weil sich der Transfer so lange hingezogen hat, haben sie aber schon zwei Ausländer verpflichtet und mehr dürfen nicht spielen. So wird Carlo zunächst mal an den AC Mantua verliehen. Auch erste Liga, aber zweite Reihe. Seine Länderspielkarriere wird jäh unterbrochen, willkommen im zuweilen seelenlosen Profigeschäft. Auf der Bank aber sitzt er auch in Italien nie und 1964/1965 spielt er doch noch für die Roma – nur für ein Jahr, in dem der Klub italienischer Pokalsieger wird. Dann kommt das Angebot, das sein weiteres Leben bestimmen wird: Der AC Mailand lockt und er lässt sich locken. Von 1965 bis 1974 spielt er für Milan, im Einzugsbereich der Stadt lebt er heute noch – im Ort Segrate.

In Italien läuft ihm der Erfolg nach, Milan erlebt eine goldene Epoche mit Stars wie Gianni Rivera, Knut Hamrin und Giovanni Trapattoni. Und mit Carlo, der als erster Deutscher zwei Mal Europapokalsieger wird: 1968 holt Milan den Cup der Pokalsieger (2:0 gegen den HSV), 1969 den der Landesmeister. Zur Krönung folgt der Weltpokal (1969). Den dritten Europacuptriumph vermasselt ihm der 1. FC Magdeburg im Pokalsiegerfinale 1974.

Meister wird Carlo nur einmal (1968), Pokalsieger dreimal (1967, 1972, 1973). In seiner Italien-Zeit bestreitet er binnen acht Jahren noch 26 Länderspiele, obwohl ihm oft die Freigabe verweigert wird. So berichtet er im Mai 1969 in einer kicker-Kolumne von einer Absage an Bundestrainer Helmut Schön, weil "zur gleichen Stunde unser Klub ein schweres Spiel gegen Neapel hat". Die internationalen Terminpläne sind noch nicht aufeinander abgestimmt, um Freigaben muss immer gekämpft werden, doch die Vereine haben das letzte Wort. Das ist der Hauptgrund dafür, warum der DFB besonders in den Siebzigern auf Legionäre in der Nationalmannschaft verzichtet.

"Ausgerechnet Schnellinger"

Auf Schnellinger verzichtet er nur ungern und so ist Carlo bei vielen großen, mythenumrankten Spielen der WM-Geschichte dabei. Er sieht 1966 Lothar Emmerichs Traumtor in Sheffield gegen Spanien und das legendäre Wembley-Tor und er ist in Mexiko bei beiden Jahrhundertspielen dabei. Beim 3:2 gegen England schlägt er die Flanke auf Uwe Seelers Hinterkopf und was am 17. Juni 1970 in Mexiko City geschah, das weiß jeder Fußballfan. Es ist die Nacht, als "ausgerechnet Schnellinger" zu Berühmtheit gelangt. Gegen Italien, sein Gastland, drückt der Verteidiger in letzter Minute den Ball zum 1:1 über die Linie. Es ist sein einziges Tor in 47 Länderspielen und es fällt im denkbar wichtigsten Moment, denn es schenkt der Welt die bis heute torreichste Verlängerung eines WM-Spiels. Und dem Torschützen so etwas wie Unsterblichkeit.

"Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen", heißt der vollständige Satz von ARD-Reporter Ernst Huberty. Und während sich Fußballdeutschland in jener heißen Sommernacht in den Armen liegt, diskutieren zwei Italiener auf der Tribüne des Aztekenstadions, was nun werden soll. Milan-Präsident Franco Carraro und Trainer Nereo Rocco sind im Zweifel, ob sie Schnellinger nun entlassen müssen oder nicht. Da Italien das verrückte Spiel noch 4:3 gewinnt, wird Carlo begnadigt. Heute sagt Schnellinger: "Das war ein Geschenk von oben. Ohne dieses Tor hätte man mich vergessen."

Es klingt immer ein bisschen Bitterkeit aus den Worten des Jubilars und Vater dreier Töchter, der die "angemessene Anerkennung" für seine Leistungen in Italien stets vermisst hat. Seine Meinung kann man teilen oder auch nicht. 2005 fand er jedenfalls: "Wir haben viel getan für Deutschland – wir, die wir damals ins Ausland gegangen sind. Unser Land wurde mit Krieg identifiziert, mit Hitler, nicht mit Offenheit und gutem Fußball. Aber daran hat keine Sau gedacht. Man hat uns das Geld vorgerechnet und man hat von Verrat gesprochen. Ich bin mir sicher, dass wir Spieler mehr für Deutschland getan haben als alle Konsuln, Botschafter und Politiker zusammengenommen." Und nun bekomme er nur 200 Mark Rente von Deutschland, klagt er im Gespräch mit dpa.

Schnellinger über Löw: "Muss ihm Zeit lassen"

Fakt ist, dass nur wenige an vier Weltmeisterschaften teilgenommen haben. Und wer kann schon sagen, mit drei Ehrenspielführern WM-Spiele bestritten zu haben? Er war 1958 dabei, als Fritz Walter ging und Uwe Seeler kam und 1966 spielte er auch an der Seite von Franz Beckenbauer.

Wahrlich eine große Karriere, der das ruhmlose Ende keinen Abbruch tut. 1974 ging er mit 35 noch in die Bundesliga, beendete das Abenteuer bei Tennis Borussia Berlin aber vorzeitig und schlug eine Kaufmannslaufbahn (unter anderem als Generalvertreter für Einbauküchen) ein. In Italien, wo aus "Kalli" "Carlo" wurde und von wo er nie mehr weg will. "Ich mag das Land und die Menschen. Sie lachen gerne und sind fröhlich. Ein bisschen erinnern sie mich an die Rheinländer", sagte er 2011. Ganz aus dem Blick hat er die Heimat nicht verloren und so wünscht er aus der Ferne Joachim Löw viel Glück für den Neuaufbau der Nationalmannschaft, "man muss ihm aber Zeit lassen. So etwas geht nicht von heute auf morgen". Daraus spricht die Weisheit des Alters, die manchem Kritiker zu wünschen wäre.

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"Haben Sie einen Reisepass?" Mit dieser Frage aus dem Munde von Bundestrainer Sepp Herberger nimmt das Leben eines knapp 19-jährigen jungen Mannes, der am heutigen Sonntag seinen 80. Geburtstag feiert, eine rasante Wendung. Karl-Heinz Schnellinger hat Herberger in einem inoffiziellen Test zwischen Deutschland und der Schweiz im März 1958 in Basel derart beeindruckt, dass er ihn zum Länderspiel nach Prag mitnehmen will.

Der kicker schreibt damals: "Dieser Läufer, Schnellinger, fiel von Beginn an auf. Zunächst durch seine stramme Statur und seinen leuchtenden Blondschopf, alsdann durch seine überaus solide Spielweise, später – passend zu seinem Namen – durch schnelles Laufen und schnelles Handeln." Das erste von vielen Lobliedern auf einen kommenden Weltklassespieler im DFB-Dress klingt ebenso vielversprechend wie Herbergers zurückhaltendes Lob: "Vielleicht wird noch was aus Ihnen!"

"Ein Oberschüler für Deutschland!"

Am Reisepass scheitert der Plan dann nicht, schließlich hat Schnellinger sein Land schon öfters im Dienste des Fußballs verlassen. Zuletzt 1957 beim UEFA-Jugendturnier in Madrid, als er bereits dreimal für Deutschland spielt. Nun also die A-Nationalmannschaft: Nur zwei Tage nach seinem 19. Geburtstag lässt Herberger den Verteidiger der zweitklassigen (!) SG Düren 99 am 2. April 1958 im Mittelfeld als "linker Läufer" auflaufen und ist trotz der 2:3-Niederlage voll des Lobes über seinen Debütanten: "Er hat sich in unseren starken Abwehrblock hineingespielt und erinnert mich in manchen Szenen an den sprunggewaltigen jungen Posipal." Die Presse hat ihre Sensation: "Ein Oberschüler für Deutschland!"

Das mit der Oberschule hat sich dann schnell erledigt. Die diversen Ambitionen des semmelblonden Gymnasiasten lassen sich nicht miteinander vereinbaren. Schule und Fußball streiten fast täglich um die kostbare Zeit des Heranwachsenden. Der Vater, der mit Fußball nichts am Hut hat, drängt auf das Abitur, doch der Fußball fordert einen immer höheren Tribut in Form von Reisen, Lehrgängen und Training. Trotz seiner Jugend- und Amateurländerspiele und der zahlreichen Auswahlspiele auf Regionalebene erhält Schnellinger keinerlei Privilegien am Naturwissenschaftlichen Gymnasium seiner Geburtsstadt Düren. Noch 2005 erinnert sich Schnellinger mit spürbarem Grimm an die Hindernisse der Pennälerzeit: "Ich wurde nicht unterstützt, geschweige denn gefördert. Mein armer Vater wurde einige Male beim Direktor, meinem Mathematiklehrer, vorstellig um zu helfen. Der beschied: 'Sie können machen, was Sie wollen. Das liegt allein in Ihrer Verantwortung.' So hab' ich, genau genommen, mit meiner professionellen Berufsauffassung mein Abitur versaut. Woher die Zeit nehmen, um zu lernen?"

Er geht also ohne Abitur von der Schule und macht seine Fußballlehre beim westdeutschen Oberligisten 1. FC Köln, der ihn nach der WM 1958 aus Düren weglockt. Er kommt mit frischen Meriten. In Schweden ist Schnellinger nämlich dank seines geglückten Debüts von Prag als Zweitligaspieler (!) dabei und kommt zweimal zum Einsatz. Wieder gegen die Tschechen (2:2) und im Spiel um Platz 3 gegen Frankreich (3:6). Zweimal schreibt er Geschichte: Mit dem ersten Einsatz avanciert er zum jüngsten deutschen WM-Spieler aller Zeiten und beim zweiten "habe ich Just Fontaine dabei geholfen, WM-Torschützenkönig zu werden." Sein Gegenspieler schießt drei Tore.

Man sieht es "Kalli" nach, alle Welt erkennt sein Talent. Fritz Walter wird noch 1962 "in aller Bescheidenheit" sagen, er habe schon nach dem Debüt in Prag "unserem Karl-Heinz Schnellinger eine große Karriere prophezeit".

Deutschlands Fußballer des Jahres 1962

Nun geht es Schlag auf Schlag. Viermal in Folge wird er mit Köln Westdeutscher Meister und 1962 steht er natürlich in der ersten Kölner Meisterelf, die im Finale den HSV 3:2 besiegt. 1962 ist sein großes Jahr. Bei der ansonsten enttäuschenden WM in Chile gehört er zu den großen Gewinnern. Im kicker erhält er in allen vier Spielen die Note 1, wird nach dem Turnier in nahezu jede fiktive Weltauswahl der internationalen Presse gewählt, 1963 läuft er auch in einer reellen auf. Am 27. Oktober 1962 wählen ihn die deutschen Sportjournalisten zum Fußballer des Jahres mit 149 Stimmen, gefolgt von seinem Kölner Kapitän Hans Schäfer.

Zu diesem Anlass erscheint eine schmale Biographie im Copress-Verlag (Titel: "Gib mir den Ball"), in der Bundestrainer Herberger so zitiert wird: "Schnellinger ist auf allen Positionen so stark, daß er jeden ausstechen kann. Wohin wir ihn stellen, als Verteidiger, Stopper oder Läufer, das hängt nicht von ihm, sondern von den anderen ab." Am meisten stellen sie ihn auf als linken Verteidiger, aber rechts wäre auch kein Problem. Der Mann, der in seinem Beruf alles kann, schießt natürlich auch beidfüßig. Wobei er von Beruf offiziell Vertreter für Geschenkartikel im Unternehmen von Kölns Präsident Franz Kremer ist, denn in Deutschland darf es den Profi immer noch nicht geben. Schnellinger hat das nie verstanden: "Wir Kicker bewegten uns irgendwo auf der Ebene der Kneipen- und Tankstellenbesitzer. Und das war es ja auch, was man bestenfalls mit diesem Sport erreichen konnte. Dass Fußball ein Beruf ist, dafür gab es in Deutschland damals wenig Verständnis." (Zitat aus: Deutschlands Traumelf. Die Besten aller Zeiten. 2005)

Nach 220 Spielen für den 1. FC Köln zieht es ihn ausgerechnet unmittelbar vor Gründung der Bundesliga 1963 deshalb ins damals gelobte Fußballland Italien. "Wenn die Bundesliga etwas früher gekommen wäre, wäre ich vielleicht sogar geblieben", sagte er jetzt im Geburtstagsinterview dem kicker. FC-Präsident Kremer kämpft damals nicht lange und sagt: "Du musst das machen." Köln streicht nicht ungern die damalige Rekordsumme von angeblich 550.000 DM ein, Schnellinger soll 350.000 DM Handgeld bekommen haben. Unvorstellbare Summen für deutsche Ohren in jenen Tagen. Seine Absichten hat er nie verleugnet. "In Italien spiele ich, um möglichst viel Geld zu verdienen", sagt er 1967.

Aus "Kalli" wird "Carlo"

Und so wird aus "Kalli" der "Carlo". Den Zuschlag erhält der AS Rom. Weil sich der Transfer so lange hingezogen hat, haben sie aber schon zwei Ausländer verpflichtet und mehr dürfen nicht spielen. So wird Carlo zunächst mal an den AC Mantua verliehen. Auch erste Liga, aber zweite Reihe. Seine Länderspielkarriere wird jäh unterbrochen, willkommen im zuweilen seelenlosen Profigeschäft. Auf der Bank aber sitzt er auch in Italien nie und 1964/1965 spielt er doch noch für die Roma – nur für ein Jahr, in dem der Klub italienischer Pokalsieger wird. Dann kommt das Angebot, das sein weiteres Leben bestimmen wird: Der AC Mailand lockt und er lässt sich locken. Von 1965 bis 1974 spielt er für Milan, im Einzugsbereich der Stadt lebt er heute noch – im Ort Segrate.

In Italien läuft ihm der Erfolg nach, Milan erlebt eine goldene Epoche mit Stars wie Gianni Rivera, Knut Hamrin und Giovanni Trapattoni. Und mit Carlo, der als erster Deutscher zwei Mal Europapokalsieger wird: 1968 holt Milan den Cup der Pokalsieger (2:0 gegen den HSV), 1969 den der Landesmeister. Zur Krönung folgt der Weltpokal (1969). Den dritten Europacuptriumph vermasselt ihm der 1. FC Magdeburg im Pokalsiegerfinale 1974.

Meister wird Carlo nur einmal (1968), Pokalsieger dreimal (1967, 1972, 1973). In seiner Italien-Zeit bestreitet er binnen acht Jahren noch 26 Länderspiele, obwohl ihm oft die Freigabe verweigert wird. So berichtet er im Mai 1969 in einer kicker-Kolumne von einer Absage an Bundestrainer Helmut Schön, weil "zur gleichen Stunde unser Klub ein schweres Spiel gegen Neapel hat". Die internationalen Terminpläne sind noch nicht aufeinander abgestimmt, um Freigaben muss immer gekämpft werden, doch die Vereine haben das letzte Wort. Das ist der Hauptgrund dafür, warum der DFB besonders in den Siebzigern auf Legionäre in der Nationalmannschaft verzichtet.

"Ausgerechnet Schnellinger"

Auf Schnellinger verzichtet er nur ungern und so ist Carlo bei vielen großen, mythenumrankten Spielen der WM-Geschichte dabei. Er sieht 1966 Lothar Emmerichs Traumtor in Sheffield gegen Spanien und das legendäre Wembley-Tor und er ist in Mexiko bei beiden Jahrhundertspielen dabei. Beim 3:2 gegen England schlägt er die Flanke auf Uwe Seelers Hinterkopf und was am 17. Juni 1970 in Mexiko City geschah, das weiß jeder Fußballfan. Es ist die Nacht, als "ausgerechnet Schnellinger" zu Berühmtheit gelangt. Gegen Italien, sein Gastland, drückt der Verteidiger in letzter Minute den Ball zum 1:1 über die Linie. Es ist sein einziges Tor in 47 Länderspielen und es fällt im denkbar wichtigsten Moment, denn es schenkt der Welt die bis heute torreichste Verlängerung eines WM-Spiels. Und dem Torschützen so etwas wie Unsterblichkeit.

"Ausgerechnet Schnellinger, werden die Italiener sagen", heißt der vollständige Satz von ARD-Reporter Ernst Huberty. Und während sich Fußballdeutschland in jener heißen Sommernacht in den Armen liegt, diskutieren zwei Italiener auf der Tribüne des Aztekenstadions, was nun werden soll. Milan-Präsident Franco Carraro und Trainer Nereo Rocco sind im Zweifel, ob sie Schnellinger nun entlassen müssen oder nicht. Da Italien das verrückte Spiel noch 4:3 gewinnt, wird Carlo begnadigt. Heute sagt Schnellinger: "Das war ein Geschenk von oben. Ohne dieses Tor hätte man mich vergessen."

Es klingt immer ein bisschen Bitterkeit aus den Worten des Jubilars und Vater dreier Töchter, der die "angemessene Anerkennung" für seine Leistungen in Italien stets vermisst hat. Seine Meinung kann man teilen oder auch nicht. 2005 fand er jedenfalls: "Wir haben viel getan für Deutschland – wir, die wir damals ins Ausland gegangen sind. Unser Land wurde mit Krieg identifiziert, mit Hitler, nicht mit Offenheit und gutem Fußball. Aber daran hat keine Sau gedacht. Man hat uns das Geld vorgerechnet und man hat von Verrat gesprochen. Ich bin mir sicher, dass wir Spieler mehr für Deutschland getan haben als alle Konsuln, Botschafter und Politiker zusammengenommen." Und nun bekomme er nur 200 Mark Rente von Deutschland, klagt er im Gespräch mit dpa.

Schnellinger über Löw: "Muss ihm Zeit lassen"

Fakt ist, dass nur wenige an vier Weltmeisterschaften teilgenommen haben. Und wer kann schon sagen, mit drei Ehrenspielführern WM-Spiele bestritten zu haben? Er war 1958 dabei, als Fritz Walter ging und Uwe Seeler kam und 1966 spielte er auch an der Seite von Franz Beckenbauer.

Wahrlich eine große Karriere, der das ruhmlose Ende keinen Abbruch tut. 1974 ging er mit 35 noch in die Bundesliga, beendete das Abenteuer bei Tennis Borussia Berlin aber vorzeitig und schlug eine Kaufmannslaufbahn (unter anderem als Generalvertreter für Einbauküchen) ein. In Italien, wo aus "Kalli" "Carlo" wurde und von wo er nie mehr weg will. "Ich mag das Land und die Menschen. Sie lachen gerne und sind fröhlich. Ein bisschen erinnern sie mich an die Rheinländer", sagte er 2011. Ganz aus dem Blick hat er die Heimat nicht verloren und so wünscht er aus der Ferne Joachim Löw viel Glück für den Neuaufbau der Nationalmannschaft, "man muss ihm aber Zeit lassen. So etwas geht nicht von heute auf morgen". Daraus spricht die Weisheit des Alters, die manchem Kritiker zu wünschen wäre.

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